Kapitel 32: Ein falsches Spiel
Montag 10.05.20XX, 9:00
Sebastian blickte auf, als General Recken das Besprechungszimmer betrat. Der Mann wirkte noch immer wie die Ruhe selbst, obwohl Laura gestern fast einen seiner Männer unter ihren Füßen wortwörtlich begraben hätte.
Entweder seine Männer bedeuteten ihm nicht viel oder er hatte den Verstand verloren. Beides war denkbar. Jedoch konnte Sebastian selbst nur wenig machen. Ihm waren die Hände gebunden und er war nur frei, weil seine Freundin ansonsten die halbe Basis in Schutt und Asche gelegt hätte.
Carina räusperte sich und meinte: „Guten Morgen, General. Ich habe neue Ergebnisse.“
Als sich Sebastian zu der jungen Soldatin umschaute, bemerkte er deren Nervosität. Was auch immer sie zu berichten hatte, konnten keine guten Neuigkeiten sein.
„Fangen Sie an, Feldwebel Recken.“, sprach der General ungeduldig.
Carina nickte und schaltete den Beamer ein. Sofort wurde auf dem Bildschirm eine Kurve gezeigt, die stark anstieg. Sebastian musste nicht einmal das gesamte Diagramm lesen, um zu wissen, dass es sich um Lauras Wachstum handelte.
„Mit den neuen Daten, die ich durch Laura Webers letztes Wachstum sammeln konnte, war es mir möglich eine neue Prognose für ihre künftigen Wachstumsschübe zu erstellen.“
Sie machte eine kurze Pause, um die Folie zu wechseln. Das Diagramm wirkte auf den ersten Blick identisch, doch dann warf Sebastian einen Blick auf die Skalierung der Y-Achse. Sofort setzte sein Herz einen Schlag aus. Innerhalb von vier Wochen würde seine Freundin laut der Berechnung etwa 200 Meter groß sein.
Dies war eine Größe, die er sich gar nicht vorstellen konnte. Sie wäre einfach nur riesig. Er wollte sich lieber nicht vorstellen, was passierte, wenn sie bei dieser Größe eine Hungerattacke bekam.
„Und?“, fragte General Recken.
„Wie und?“, rief Sebastian und bekam dafür einen bösen Blick des Mannes.
„Sie haben hier gar nichts zu sagen, Herr Paffen. Seien Sie froh, dass sie überhaupt dabei sein dürfen!“
„Ist Ihnen denn nicht klar, was das zu bedeuten hat?“, fragte er, ohne sich um die Konsequenzen zu kümmern. Wenn niemand etwas unternahm, würde Laura zu einer Gigantin werden.
„200 Meter scheint auf den ersten Blick groß zu sein. Aber es ist ja nicht so, als könnte man sie nicht aufhalten. Wir verfügen immer noch über genügend Möglichkeiten, um ihr Schaden zuzufügen, sofern wir die Kontrolle verlieren und davon gehe ich nicht aus.“
Bevor Sebastian etwas entgegnen konnte, meine Carina: „Das war noch nicht alles. Dies ist eine Annahme, sofern das Mittel relativ schnell an Wirkung verliert. Sofern es nur halb so schnell an Wirkung verliert, würde ihr Wachstum wie folgt verlaufen.“
Sie blätterte um und augenblicklich wurde Sebastian kreidebleich. „M-Moment. WAS?“, stammelte er. Die Skala ging nun bis 2 Kilometer.
Carina seufzte und meinte: „Selbst kleine Abweichung haben bereits eine große Auswirkung auf ihr weiteres Wachstum. Beim letzten Schub hat sich ihre Größe verdreifacht und aktuell deutet nichts darauf hin, dass die Wirkung großartig nachlässt.“
„Nun... das ist interessant.“, meinte der General.
Sebastian sah ihn fassungslos an. Wie konnte er bei dieser Prognose so ruhig bleiben? Innerhalb von fünf Wochen würde Laura bereits einen Kilometer groß sein. Bereits zwei Wochen danach würde sie sogar das doppelte in den Himmel ragen. Wie sollte man überhaupt ein so großes Wesen sättigen können?
„Sollte Laura Webers Wachstum nicht bald stoppen, wird sie verhungern.“, meinte Carina mit besorgter Stimme. „Aber vorher wird sie uns alle gegessen haben.“
General Recken lachte und meinte: „Du machst dir zu viele Gedanken. Das wird nicht eintreten. Ihr Wachstum wird nicht mehr lange weitergehen.“
Doch er klang wenig überzeugend. Sebastian brodelte innerlich. Das lag nicht nur daran, dass sie für den drohenden Tod ihrer Freundin verantwortlich waren. Denn sie hatten auch dafür gesorgt, dass einem Großteil der Menschheit die Vernichtung drohte.
„Was haben Sie nur getan?“, hauchte er bleich. „Was habe ich getan?“
Carina seufzte und meinte: „Wir müssen dieses „Experiment“ sofort abbrechen. Unser aller Überleben hängt davon ab. Schon jetzt braucht sie pro Tag so viel Essen wie 1000 Soldaten. Mit ihrem nächsten Wachstum wird sie so viel verschlingen, wie 15.000 oder 20.000 Menschen. Selbst dir sollte klar sein, dass wir logistisch innerhalb von drei Wochen an unsere Grenzen stoßen werden, Vater.“
„Ich glaube kaum, dass Laura in drei Wochen noch hier ist.“, antwortete der General und erhob sich. „Wenn das alles ist, werde ich jetzt gehen.“
Ohne auf eine Antwort zu warten, erhob er sich. Sebastian blickte ihn wie versteinert hinterher. Er zitterte am ganzen Körper und er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Aus weiter Ferne hörte er Carina rufen: „Das kann nicht dein Ernst sein, Vater!“
Doch die Tür zu dem Raum hatte sich bereits geschlossen. Völlig fassungslos setzte sich Carina gegenüber von Sebastian und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen. „Was sollen wir denn bloß tun...“
Darauf wusste er keine Antwort. Diese Erkenntnis hatte ihn erwischt, wie ein heftiger Nackenschlag. Dabei hatte er gestern so viel Spaß mit Laura gehabt. Doch wenn sie wirklich so viel wuchs, wie Carina befürchtete, wäre es damit schon bald vorbei.
Er hatte gewusst, dass die Lage nicht gut war. Aber die Realität war noch viel schlimmer, als er befürchtet hatte. Seine Freundin war plötzlich eine Bedrohung für die Menschheit und vermutlich war sie sich nicht einmal im Klaren darüber. Doch wie sollte er dieses Thema bei ihr ansprechen? Würde sie ihm überhaupt glauben? Und selbst wenn, was konnte sie schon dagegen tun?
Sein Handy vibrierte plötzlich. Zunächst dachte er sich nichts dabei, doch dann erinnerte er sich daran, dass er hier eigentlich gar kein Netz hatte. Er holte das Smartphone hervor und sah eine Nachricht von einer unbekannten Nummer.
Als er sie öffnete, downloadete er automatisch ein Dokument. Zunächst dachte er sich, dass es sich um einen Virus handelte, doch als sich die Datei selbst öffnete, erschauderte er.
„Protokoll 719:
Wir haben es geschafft... Das Wachstum des Testsubjekts 002 ist vorbei... Die Lage ist stabil... Der Prozess war kompliziert und gefährlich... Doch es scheint so, als hätte Testsubjekt 002 überlebt... richtige Dosis Strahlung... Wirkung groß... Folgeschäden unbekannt...“
Der Zeitpunkt der Nachricht war einfach zu gut. Wollte man ihm damit helfen oder auf eine falsche Fährte bringen? Und doch erschien es ihm die einzige Möglichkeit etwas gegen das gewaltige Wachstum seiner Freundin zu unternehmen.
Natürlich erinnerte er sich an Professor Reckens Worte, dass sie sowieso nichts unternehmen konnten. Doch womöglich war dies eine Lüge und er wollte sie einfach nur aufhalten. Deshalb blickte er zu Carina und meinte: „Womöglich gibt es eine Möglichkeit...“