- Zusammenfassung
- Eine neue Technologie, ein waghalsiges Team, eine Mission in die Grenzzustände der Wirklichkeit
- Enthält
- shrink
- Blutig
- Nein
[Irgendwo unter der tibetischen Hochebene - April 2127]
Das Dossier landete mit einem dumpfen Klatschen auf der schmucklosen Pressspanschreibtischplatte.
Zeng Zongxian sah von seiner Formlicht-Sphäre auf, über die unentwegt Informationsströme blitzten, die er mittels einer neuronalen Schnittstelle zum Takt seiner Gedanken tanzen ließ.
Zongxian nahm die Datentafel auf, die Antoine ihm mit kühler Miene auf den Arbeitsplatz geworfen hatte.
Das Gerät erkannte seinen genetischen Fingerabdruck und entriegelte die fraktal-sequestrierten Informationsstrukturballungen auf dem Nanokristallspeichermedium.
Der chinesischstämmige Paktoffizier las die Daten auf dem Bildschirm der Tafel, während kontextuelle und ergänzende Informationen und Eindrücke direkt in sein Gehirn strömten.
Zongxian ließ das Gerät fallen, wischte die wabernde Formlichtsphäre, mit welcher er zuvor sein Tagwerk verrichtet hatte, zur Seite und richtete einen langen, stillen Moment seinen Blick auf Antoine.
"Doktor Boutella.", fing er in ruhigem Ton an, die Stimme auf eine Art gemäßigt, die Freude und Zorn zugleich hätte kaschieren können. Er strich sich kurz durchs ergraute Haar, ehe er fortfuhr.
"Antoine. Ist Ihnen klar, was Sie mir vorlegen?".
Antoine Boutella nickte ohne den Hauch eines Zögerns.
"Ich bin weit davon entfernt, meine Fähigkeit zur Selbstreflektion einzubüßen, Oberst Zeng. Zongxian.".
Er wechselte auch zum ungewohnten Du, womit der sonst so reservierte Oberst begonnen und somit offenbart hatte, dass Antoine ihn tatsächlich aus dem rigiden Konzept gebracht hatte.
"Ich will es sehen.", unterbrach der Offizier den so kurzen Triumphgedanken des führenden Experten für angewandte Quantenliminalität des Kinshasa Pakts.
Ein leicht flaues Gefühl beschlicht den Wissenschaftler, doch er nickte.
"Natürlich. Ich lasse...".
Er wurde unterbrochen.
"Unverzüglich.", bestimmte Zongxian, erhob sich und zog die Paktuniform zurecht, die leichte Falten über seinem mit den Jahren etwas rundlicher gewordenen Torso warf.
Das künstliche Licht in dem bunkerartigen Büro flackerte etwas, als die Fusionsgeneratoren der Anlage eine Energiespitze irgendwo im überstrapazierten Netzwerk kompensieren mussten.
Sie nannten es "Die Brücke".
In den Akten wurde die Vorrichtung als "Lorentzsche Mannigfaltigkeitsmaschine" bezeichnet.
Wie man es auch nennen mochte, das Gerät basierte im inneren Kern auf einem kompakten Teilchenbeschleuniger, der mittels Chronitonenverschränkung eines zeitartige Kurve simulierte, welche - so die bisherige Hypothese und Hoffnung - eine freie Skalierung von Materie in den vier Achsen des Raumzeitkontinuums und damit - in letzter Konsequenz - die Translimination der Menschheit ermöglichen sollte.
Ein Raumzeitteleporter .
Eine Zeitmaschine.
Ein Rettungsboot.
Die Erde war immer die Wiege des menschlichen Geschlechts gewesen.
Nunmehr wurde sie ihr Grab. Das vergangene Jahrhundert, welches in Unschuld begonnen hatte als das Jahrhundert der Hoffnung und des Aufbruchs für die damaligen Zeitzeugen, war zu einem Jahrhundert der Kriege und des Klimahorrors geworden.
In einer sterbenden Welt hatten die dahinsiechenden Nationalstaaten den Schrecken des Atoms entfesselt und sich gegenseitig vernichtet. Vielleicht, so mochte manch einer in ruheloser Nacht zynisch philosophieren, war es ein instinktiver Suizid globalen Ausmaßes gewesen. In den Blitzen der Wasserstoffbomben ein schnelles, schmerzloses Ende zu finden... war es nicht den folgenden Grauen weltweiter Anarchie, apokalyptischer Hungersnöte im Ödland, kollabierender Ökosysteme und der bestialischen Brutalität degenerierter Despoten vorzuziehen gewesen?
Zeng Zongxian war ein Kind dieser Zeit. Vor dem Pakt. Vor dem Schulterschluss Überlebender, die einen neuen Gesellschaftsvertrag geschlossen und zum ersten Mal seit Generationen wieder gewagt hatten, das Haupt aus dem Staub und dem Dreck und dem Elend zu erheben und empor zu blicken auf der Suche nach einem Schimmer Hoffnung für diese verdammte Spezies.
Er war gezeichnet von Kindheit und Jugend. Doch die Armee des Phoenix hatte ihn gefunden und hier her gebracht, unter die Berge des Himalaya, wo seine eigenen Vorfahren dereinst die Übel gelagert hatten, die so viele Opfer forderten.
Von diesem endlos erscheinenden Bunkernetzwerk, verbunden mit unterirdischen Bahngleisen, waren die interkontinentalen Raketen der alten Volksrepublik in die Welt gestartet. Neu Delhi. Tokyo. Syndney. Kairo. Und als allererstes... Kinshasa. Alle ausradiert und noch mehr, von Waffen, die hier gelagert und zur Stunde Null zu ihren Startsilos verfrachtet worden waren.
Das nukleare Feuer brannte heiß und schnell, reduzierte die Menschheit zu dem, was heute übrig war.
Beinahe poetisch mutete es an, dass sie hier, in den Gewölben des Weltuntergangs, die Rettung für die Menschheit schmiedeten.
In den braunen Augen des Oberst reflektierte gespenstisch der Azurschein der knisternden Bögen ätherisch anmutender Energie, die zwischen den zwei zentralen Pylonen des physischen Zugangs zur Brücke umhersprangen.
Die Anzeigen auf den Kontroll-Formlichtsphären, an denen noch ganze Scharen aufgeregt schnatternder Wissenschaftler ihre Daten wieder und wieder abglichen, stimmten mit jenen Informationsströmen überein, welche der Paktoffizier von Antoine erhalten hatte.
Der transliminale Übergang war nicht nur stabil, die letzte Sonde hatte auch ein Signal übertragen.
Ein Signal mit einer eindeutigen Quantendatierung:
2023.
Eines der letzten Jahre, in denen noch etwas unternommen werden konnte, um die Geschichte zu korrigieren und eine Zeitlinie zu kreieren, in der das Schicksal der Welt ein besseres sein würde, als in diesem.
Auch, wenn der Phoenix ihm selbst die Aufsicht über dieses Projekt übertragen hatte, so hatte der Oberst niemals tatsächlich an einen Durchbruch oder gar etwas von praktischer Anwendbarkeit geglaubt.
Doch hier stand er nun, Schulter an Schulter mit Doktor Antoine Boutella, den er für seine vielen und langatmigen Vorträge über Partikelphysik, heisenbergsche Unschärfe und Einstein-Rosen-Wurmlöcher doch eigentlich zutiefst verachtete, und starrte direkt hinab in eine flirrende Wunde in der Wirklichkeit, an deren anderem Ende das Heil oder Wehe aller Dinge lag.
"Ich setze ihn persönlich hierüber in Kenntnis.", sprach der alternde Offizier mit ungewohnt dünner Stimme.
"Er wird das Einsatzteam wahrscheinlich sofort aktivieren wollen.".
[Ein Studentenwohnheim in Deutschland - Sommer 2023]
Unter einer unordentlichen Bettdecke erwachte eine Studentin aus einem viel zu ruhigen Schlaf.
Den Handywecker hatte sie oft genug weggedrückt, um jede Hoffnung eines produktiven Tages von vorneherein zu eliminieren.
Verkatert und antriebslos seufzte die junge Frau, nichtsahnend, dass sich in ihrer unaufgeräumten Studentenbude Raum und Zeit kreuzen und die Geschichte in unwiderrufliche Bahnen geleitet werden würden...