Es war sinnlos, weiter danach zu suchen. Das Schiff war weg. Hatte meine Crew uns einfach hier sitzen lassen? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Irgendetwas musste passiert sein, und ich fürchtete, dass es nichts Gutes war.
Ich saß mit Fiona am Waldrand, im Schutz der Bäume. Ich sah sie eindringlich an.
„Und? Irgendwelche Ideen?“
Sie lächelte gequält. „Nein. Ich schätze, wir sitzen hier erstmal fest.“
„Sieht so aus...“
Keiner von uns ließ es sich anmerken, doch von „schlechter Stimmung“ zu sprechen war noch weit untertrieben.
Wir beschlossen dennoch, zurück zum Dorf zu gehen und der alten Dame noch ein paar Informationen zu entlocken. Irgendetwas mussten wir schließlich tun.
Die Sonne war inzwischen untergegangen, und die Wanderung durch den Wald war weitaus angenehmer als am Nachmittag. Außerdem boten uns die Bäume Schutz vor den Riesinnen, die uns aber glücklicherweise nicht über den Weg liefen. Sie waren nicht einmal zu hören. Gut.
Es mag wohl nicht die höflichste Art und Weise gewesen sein, wie wir mitten in der Nacht bei der Frau anklopften, dennoch öffnete sie die Tür, sichtlich erleichtert.
„Da seid ihr ja! Und? Wie sieht es aus? Habt ihr einen Plan?“
Fiona und ich blickten uns kurz in die Augen.
„Nun...“, begann ich, „es gibt da wohl ein Problem.“
Die alte Frau bat uns hinein, und wir setzten uns gemeinsam an den großen Holztisch in der Mitte ihres Hauses. Sie reichte uns Gläser mit frischem Wasser.
„Euer... euer Schiff ist weg?“
Ich traute mich fast nicht, ihr in die Augen zu sehen. Schließlich hatten wir Hilfe versprochen.
„Ja, es war nirgends zu sehen. Und ich glaube nicht, dass meine Mannschaft mich je im Stich lassen würde. Was meinen Sie? Könnten die Gigantinnen es zerstört haben?“
Die alte Frau dachte nicht lange nach. „Durchaus. Vermutlich haben sie es entdeckt und...“
Wir schwiegen alle für ein paar Sekunden.
„Ich weigere mich zu glauben, dass meine Crew tot ist! Ich muss herausfinden, was passiert ist!“
Fiona warf mir einen bedrückten Blick zu. „Und wie willst du das anstellen? Wir wissen nichts über die Insel. Und wir haben keine Chance gegen die Riesen.“
Ich dachte kurz nach und sprach die alte Dame an. „Sie sagten vorhin, dass die jüngeren Riesinnen harmlos seien. Was meinten sie damit?“
„Sie... sie sind nicht gewalttätig. Wenn die ältere nicht da wäre, würden sie uns vermutlich in Frieden lassen. Warum fragt ihr?“
„Vielleicht... vielleicht können wir ja mit ihnen sprechen.“
Fiona entwich ein seltsames Geräusch. „B-Bitte was? Bist du wahnsinnig?“
„Hast du eine bessere Idee? Ich habe jedenfalls keine Lust, den Rest meines Lebens in Sklaverei zu verbringen! Eher sterbe ich!“
Fiona wirkte außer sich. „Das kann nicht dein Ernst sein! Wie stellst du dir das vor? Sollen wir sie einfach nett darum bitten, uns zu helfen?“
Ich grinste. „Genau das. Erinnerst du dich nicht? Sie haben versucht, uns zu retten. Und wir haben es nur wegen ihnen geschafft, oder nicht?“
Beide Frauen sahen mich an, als wäre ich komplett verrückt geworden.
- - -
Ich saß mit Fiona im zweiten Stock des Hauses der alten Dame. Sie hatte uns ein kleines Zimmer zur Verfügung gestellt. Eine einsame Kerze erleuchtete den Raum, und ihr Licht flackerte Schwach in der Dunkelheit der Nacht.
Ich lag auf dem Bett und starrte angestrengt an die Decke.
„Die alte Dame hat gesagt, dass die Dorfbewohner nur ihrem Tagesgeschäft nachgehen dürfen. Das heißt, dass sie die Zeit von nachmittags bis morgens in ihren Häusern verbringen müssen.“
Ich hörte ein Schnaufen aus Fionas Richtung. „Ja, und?“
„Die Riesinnen kommen zweimal am Tag ins Dorf. Einmal morgens, einmal Nachmittags. Wir müssen sie irgendwie abfangen.“
„Wie stellst du dir das vor? Es tut mir leid, aber ich denke immer noch, dass du verrückt bist.“
„Ich weiß. Vielleicht bin ich es auch. Aber ich sehe keine andere Lösung. Wir müssen es zumindest versuchen. Also lass mich dich nochmal fragen. Hast du eine bessere Idee?“
„Nein... nein. Habe ich nicht. Ich habe nur kein gutes Gefühl bei der Sache. Ich möchte nicht, dass du dich in derlei Gefahr begibst.“
„Zum dritten Mal. Was zur Hölle sollen wir sonst tun? Uns die nächsten 50 Jahre in diesem Haus verstecken? Eher trinke ich Gift!“
Plötzlich fiel mir etwas ein. Gift. Gift! Ja!
„Fiona. Warte mal. Was hast du alles für die Expedition eingepackt? Irgendetwas, das uns weiterhelfen könnte?“
„Ich wüsste nicht, wie uns ein paar Glasphiolen und Pinzetten helf--“
Sie unterbrach sich selbst.
„Nein, vergiss das. Vielleicht gibt es doch etwas.“
Sie sprang auf und lief zu ihrem Rucksack, der neben der Tür stand. Sie wühlte kurze Zeit darin herum und zog eine Phiole mit einer durchsichtigen Flüssigkeit daraus hervor.
„Das hier“, sagte sie stolz.
„Und was zum Teufel soll das sein?“
„Schlangengift. Ich trage es immer bei mir, wenn wir eine Insel erkunden. Es dient einerseits der Abwehr, andererseits kann man darin andere Flüssigkeiten auflösen und neutralisieren.“
Meine Augen leuchteten auf. Es war fast so, als hätte sie meine Gedanken gelesen. „Und... und was heißt das jetzt?“
„Vielleicht könnten wir eine von den Riesinnen damit abmurksen!“
Ich sah misstrauisch auf den kleinen Glasbehälter. „Und das reicht? Ist nicht gerade viel, oder?“
Fiona setzte einen gemeinen Blick auf. „Ein Tropfen reicht locker aus, um einen Menschen in wenigen Momenten zu töten. Das hier sollte ausreichen, um eine von ihnen fertig zu machen! Ich bin mir sicher!“
„Das ist doch schon mal etwas. Allerdings stellt sich mir die Frage, wie wir sie dazu bekommen sollten, es zu trinken.“
Wieder sah mich Fiona eindringlich an. „Die Menschen hier stellen den Gigantinnen Wasser zur Verfügung, oder? Wenn du tatsächlich mit ihnen reden möchtest, könntest du sie davon überzeugen, die ältere Riesin damit zu vergiften. Da hast du deinen Plan!“
Ich lachte laut auf. „Das klingt wahnsinnig! Hahah! Probieren wir es!“
Selbst Fiona musste nun lachen. Es gab einen Hoffnungsschimmer. So dünn und schwach wie er auch war, es war ein Anfang. Nun mussten wir nur noch einen Weg finden, ungestört mit den jüngeren Riesinnen zu sprechen. Und ich hatte bereits eine Idee.
- - -
Wir wurden unsanft aus dem Schlaf gerissen.
THUD.
THUD.
THUD.
Das Geräusch war unverkennbar, Die Riesinnen waren auf dem Weg in das Dorf, und ich blickte verschlafen aus dem Fenster. Die Sonne war gerade aufgegangen. Doch bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, klopfte es an der Tür. Es war die alte Dame. Sie wirkte angespannt.
„Guten Morgen, ihr beiden.“
Ich flüsterte ihr ein grummeliges „Morgen“ zu.
Die alte Dame verlor jedoch keine Zeit und sprach schnell. Jetzt wirkte sie nicht mehr nur angespannt, sie war es auch.
„Ich... ich muss jetzt zum morgendlichen Appell. Ihr bleibt hier und versteckt euch, habt ihr verstanden? Ihr dürft unter keinen Umständen das Haus verlassen. Egal, was passiert!“
Ich sah die Frau argwöhnisch an. „Appell? Was?“
„Keine Zeit für Erklärungen. Wir sehen uns später! Bitte vertraut mir!“
Ohne auf eine Antwort zu warten schloss sie die Tür und machte sich wieder auf den Weg in das Erdgeschoss. Kurze Zeit später konnte ich hören, wie sie die Haustür öffnete und wieder abschloss.
Fiona, immer noch verschlafen, gähnte laut. „Appell? Was das wohl heißt?“
„Keine Ahnung, Warten wir es ab.“
Ich zog mich an und schnappte mir einen Stuhl. Ich platzierte ihn genau vor einem Fenster und hatte einen direkten Blick auf den Marktplatz, auf dem wir gestern noch um unser Leben fürchteten. Eine eindrucksvolle Anzahl an Menschen hatte sich bereits dort versammelt und schien auf irgendetwas zu warten. Auch die alte Frau war auf dem Weg dorthin. Was passierte nun?
THUD.
THUD.
Die Riesen waren schneller da, als ich erwartete. Sie stellten sich direkt vor die Menschen auf dem Marktplatz und blickten auf sie hinab. Der Anblick war immer noch unglaublich. Ich fühlte mich, als wäre ich in einem Traum. Ich konnte wirklich nicht anders, als diese unbegreiflichen Geschöpfe einfach nur anzustarren. Ihre unfassbare Kraft, ihre schiere Größe... wie aus einem Märchen! Allein ihre Beine waren massiger als die dicksten Baumstämme, die ich in meinem Leben je gesehen hatte. Ich hatte Probleme, ihre Gesichter klar zu erkennen, so weit oben im Himmel waren sie. Es hatte etwas Faszinierendes, etwas Übernatürliches. Als wären sie nicht von dieser Welt. Es sah seltsam aus, wie die Menschenmassen vor ihnen nicht einmal bis zu ihren Knöcheln reichten und wie aufgeschreckte Mäuse herumwuselten.
Als ich die Gigantinnen so beobachtete, bekam ich erneut Angst. Vielleicht war mein Plan doch nicht so intelligent...? Ich versuchte, den Gedanken zu verdrängen.
Die ältere Riesin, Anina, begann nun zu den Menschen zu sprechen.
„Guten Morgen, meine Kleinen! Habt ihr alle gut geschlafen?“
Niemand antwortete.
„Ja, ja. Wie auch immer. Durchzählen!“
Fiona, die inzwischen neben mir stand, schreckte kurz auf. „Jetzt verstehe ich! Sie zählen jeden Morgen die Dorfbewohner!“
„Wahrscheinlich, damit keiner abhaut“, ergänzte ich.
Anina wartete geduldig, bis der letzte Mann seine Zahl nannte. 407.
„Schön. Es sind also alle da. Das freut mich.“
Sie setzte einen arroganten Blick auf. Nicht, dass er nicht vorher schon überheblich gewesen wäre, aber ich konnte einen Anflug von Wut in ihren Augen entdecken.
„Kommen wir nun zu etwas weniger Schönem. Wo ist der Schmied? Vortreten!“
Ein älterer Mann trat aus der Menge hervor, sichtlich zitternd und mit gesenktem Kopf trat er genau vor die Zehen der Riesin Anina. „Hier“, rief er ihr zu.
Anina sah abschätzig auf ihn hinab. Wie auf ein unartiges Hündchen. „Du hast gestern schlechte Arbeit geleistet. Was sollte das? Nur ein dünner Goldring? Willst du dich über mich lustig machen?“
Der Mann schien in Panik auszubrechen. „Ich... Es tut mir leid! Das... das Rohmaterial geht uns aus! Ich weiß nicht, wo ich--“
Anina stemmte erneut die Hände in die Hüften. „Genug! Schweig!“
Sie hob langsam ihren riesigen Fuß, holte leicht aus und stieß dem alten Schmied mit dem großen Zeh gegen die Brust. Dieser schrie sofort laut auf und fiel rücklings zu Boden. Nun lag er da, und ängstlich starrte er hoch in den Himmel. „Bitte! Verschont mi--“
Die Riesin ließ ihm keine Zeit, auszusprechen. Sie setzte ihre Ferse vor ihm auf den Boden und senkte ihre gewaltige Fußsohle so über ihn, als würde sie ihn zertreten wollen. Der Schmied schrie, als hätte man ihn mit einer Flinte angeschossen. Seine Panik konnte ich bis in das Haus der alten Dame spüren.
Anina senkte ihren Fuß weiter und positionierte ihn nun so, dass der Kopf des Schmiedes zwischen ihrem großen und zweiten Zeh hinausschaute. Ihre weiche Fußsohle hielt den Rest seine Körpers unter Kontrolle und drückte ihn sanft in den weichen Boden.
Die Menschen auf dem Marktplatz schrien aufgebracht. Es war schlimm, dieses Schauspiel aus der Ferne zu beobachten. Wieder breitete sich Wut in mir aus.
Die Riesin begann erneut zu sprechen.
„Das ist deine letzte Warnung. Hast du verstanden? Nächstes Mal zerquetsche ich dich einfach wie ein Insekt! Wenn du auch nur noch einmal so eine schlechte Arbeit ablieferst, bist du dran! Kapiert?! Deine Frau und deine Kinder können sich dann auch auf etwas gefasst machen, das kannst du mir glauben!“
Der Schmied antwortete nicht. Er schnappte nach Luft und schien kurz vor dem Ersticken zu sein.
Anina wartete noch wenige Sekunden und hob dann endlich ihren Fuß von dem Mann, der sich sofort an den Hals fasste und zusammengekrümmt auf dem Boden liegen blieb.
Die Riesin lachte. „Keiner hilft ihm! Ihr bleibt, wo ihr seid!“
Dabei stampfte sie fest auf den Boden, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.
KRACH!
Das Haus der alten Dame wackelte brutal. Erneut konnten wir die unglaubliche Kraft der Gigantinnen direkt spüren.
„So, und jetzt auf die Knie! Alle!“
Fiona und ich sahen hilflos dabei zu, wie die Menschen auf dem Marktplatz auf die Knie gingen und ihre Gesichter gen Boden senkten. Regungslos verharrten sie mehrere Minuten in dieser unwürdigen Position, während Anina amüsiert kicherte.
„Gut, gut. Ihr macht das fein, meine Kleinen!“
Es war grauenhaft, schrecklich...! Wie konnte sie die Leute nur so behandeln? Es war mir ein Rätsel. Ich drohte, in meinen Gedanken zu versinken, doch Fiona stieß mir plötzlich mit dem Ellbogen in die Brust.
„Schau! Du könntest recht haben! Sieh dir die jüngeren Riesinnen an!“
Ich schüttelte die Gedanken ab und sah erneut herüber zum Platz. Die beiden anderen Gigantinnen standen einfach nur da, hinter Anina, und sie wirkten fast beschämt. Keine von ihnen sagte auch nur ein Wort. Ganz offensichtlich schien ihnen dieses Verhalten nicht zu gefallen. Als wäre es ihnen unangenehm. Es mag meine Fantasie gewesen sein, aber ich glaubte, in ihren Augen Mitleid zu erkennen.
Fiona wirkte euphorisiert. „Du hast tatsächlich recht. Es könnte funktionieren...!“
Bevor ich antworten konnte, war das „Gebet“ vorbei. Anina verabschiedete sich mit einem frechen Grinsen und stampfte davon, die anderen beiden Riesinnen im Schlepptau. Die Menschen blieben noch einige Sekunden regungslos stehen und verteilten sich dann im Dorf, um ihrer Arbeit nachzugehen. Die Erde bebte, als die Gigantinnen am Horizont verschwanden.
So wütend ich war – ich war nun sicher, dass ich zumindest eine kleine Chance hatte. Fiona und ich sahen uns in die Augen und nickten.
„Captain, du musst es versuchen! So grauenvoll diese Sache ist – ich bin nun auch überzeugt, dass wir zumindest mit ihnen reden könnten! Aber du musst höllisch aufpassen!“
- - -
Seit einigen Stunden wartete ich nun an einem der Bauernhöfe im Norden des Dorfes. Die alte Dame berichtete, dass die jüngeren Riesinnen sich hier täglich einige Rinder mitnahmen, um sie zu verspeisen. Da ich morgens natürlich nicht schnell genug vor Ort sein konnte, hoffte ich nun, dass der nachmittägliche Besuch der Riesinnen mir Glück bringen würde. Fiona wartete im Haus der Dame auf mich und wünschte mir viel Erfolg, nachdem ich sie erfolgreich davon abbringen konnte, mich zu begleiten. Es war einfach zu gefährlich. Falls ich es nicht schaffen würde, wäre sie wenigstens in der Lage, irgendwie weiterzuleben.
Üblicherweise, so sagte man mir, war Anina für die Wasservorräte zuständig. Deswegen waren die Chancen hoch, die jüngeren Riesinnen hier allein anzutreffen.
Stunde um Stunde verstrich, und meine Angst stieg mit jedem Augenblick. Was, wenn sie mich einfach zertrampeln würden? Mich ignorieren würden? Verdammt. Ich konnte einfach nicht vorhersagen, was passieren würde.
Ich unterhielt mich ein wenig mit dem Bauern, der zwar neugierig nach meinem Herkunftsort fragte, mich aber genauso wenig mit aufbauenden Worten unterstützte. Er hielt mich für verrückt. Verständlich.
Als die charakteristischen Beben schließlich zu hören waren, verkroch er sich in seinem Haus. Ich hätte gerne gesagt, dass ich mich nun mutig zu den Rindern auf die Weide stellte und wartete, aber das wäre gelogen gewesen.