Am nächsten Tag machte ich mich mit Fiona im Schutze der Nacht auf einen Trip um die Insel, nachdem wir uns den ganzen Tag über im Haus der alten Dame versteckt hielten und erneut das grausame „Ritual“ beobachten mussten.
Unser erklärtes Ziel war es, Avas Landungsboot und hoffentlich noch mehr von der Flüssigkeit zu finden, die die drei Frauen in Riesinnen verwandelt hatte.
„Ich verstehe immer noch nicht, warum wir Anina nicht einfach trotzdem vergiften“, bemerkte ich. „Was soll schon passieren?“
Fiona schien genervt. „Wie oft noch? Das geht nicht! Ich bin mir fast sicher, dass Ava nicht allzu erfreut darüber wäre.“
„Und? Glaubst du wirklich, dass sie uns einfach plattmachen würde, oder was? Sie wäre wahrscheinlich ein paar Wochen traurig und wir könnten endlich hier abhauen. Ich meine... gerechtfertigt wäre es doch schon, oder findest du nicht?“
„Ich bin mir nicht mehr so sicher“, sagte Fiona. „Da wir nun wissen was passiert ist, wäre das kaltblütiger Mord. Sie waren bis vor Kurzem noch normale Menschen. Vergiss das nicht, Captain.“
Ich stöhnte laut auf. „Ja, ja, verdammt. Es wird schon einen anderen Weg geben.“
„Noch dazu glaube ich, dass sie ihr Trinkwasser jetzt genau überprüfen werden. Wir hätten Ava einfach nichts davon erzählen sollen. Jetzt ist unsere Trumpfkarte sowieso weg“, ergänzte Fiona.
Ich schwieg. Sie hatte recht.
Wieder schien der Mond durch die Baumkronen. Wir bewegten uns langsam am Rand des Waldes, immer am Strand entlang. Früher oder später mussten wir so auf das Landungsboot der Riesinnen stoßen. Wir hofften, dass sie es nicht bereits zerstört oder an einen anderen Ort gebracht hatten.
Immerhin behauptete die alte Dame, dass die Insel nicht allzu groß sei und wir sie in etwa 24 Stunden einmal komplett umrunden konnten. So verstrich Stunde um ereignislose Stunde. Wir redeten nicht viel. Zu viel stand auf dem Spiel. Wir waren beide extrem angespannt.
Nach einer kurzen Verschnaufpause erreichten wir schließlich einen weiteren Strand. Zunächst war auch hier nichts zu sehen, bis Fiona mir in die Rippen stieß und auf die Brandung deutete.
„Siehst du das auch? Ich glaube...“
Sie ging ohne ein weiteres Wort los und verließ den Schutz der Baumkronen. Ich eilte ihr hinterher auf den Sand, und wir rannten hinunter zum Wasser.
„Was... was hast du denn?!“, hechelte ich.
„Ich habe etwas gesehen!“
Sie sollte recht behalten.
Als wir ankamen, lag ein einsames, kleines Holzboot vor Anker. Es war nicht mehr ganz intakt, das Segel war abgebrochen und trieb leblos in den Wellen umher.
Fiona wirkte freudig überrascht. „Ist es das?“
„Da gibt es wohl nur einen Weg, das herauszufinden. Sehen wir nach.“
Vorsichtig stiegen wir auf die klapprigen Holzplanken des Bootes. Auf den ersten Blick war allerdings nichts zu sehen. Ich wollte mich schon enttäuscht umdrehen und die ganze Sache abblasen, doch Fiona deutete auf eine Klappe im Boden des Schiffs.
„Warte. Was ist das hier?“, fragte sie.
„Sieh nach.“
Langsam streckte sie ihren Arm aus und packte den metallenen Griff, der an der Klappe befestigt war. Sie zog leicht daran, und die Klappe öffnete sich knirschend.
Fionas Augen begannen zu leuchten. „Was ist...das?“
Sie zog einen schwarzen Lederbeutel aus dem Geheimfach hervor.
Ich sah sie verwundert an. „Huh? Ein Beutel? Ist das alles?“
„Nein, da ist sonst nichts drin. Aber der Beutel ist nicht leer.“
Ich verdrehte die Augen. „Dann öffne ihn!“
„Ja, ja. Immer mit der Ruhe, Captain.“
Sie ließ den Griff der Geheimtür los und wir verließen das Boot. Wir setzten uns am Wasser auf den Sand und ich sah gebannt dabei zu, wie sie langsam den tiefschwarzen Beutel öffnete.
Eine Phiole mit einem Zerstäuber kam zum Vorschein. Eine blau leuchtende Flüssigkeit schien sich darin zu befinden.
„Das... das kann doch nicht wahr sein! Fiona! Du bist ein Genie!“
Sie fing an zu lächeln und drehte das Fläschchen in ihrer Hand. „Ich weiß.“
„Unglaublich! Wir haben es gesch--“
Eine laute Stimme schallte plötzlich zu uns herüber. Einmal mehr wurde ich von den Worten einer Riesin unterbrochen.
„Hah! Habe ich es mir doch gedacht!“
Wir drehten uns panisch Richtung Wald um. Dort stand sie. Anina. Wie war das möglich? Hatte sie sich etwa angeschlichen?
THUD.
THUD.
Sie bewegte sich genau auf uns zu.
„Ihr seid die anderen vom Schiff, richtig? Also hat Ava doch versucht, jemanden zu schützen!“
Ich sah herüber zu Fiona. Sie zitterte am ganzen Körper und sah voller Angst zu der Gigantin auf. Aber mir erging es nicht anders.
„Das war's. Wir sind erledigt!“, flüsterte Fiona. „Das kann doch nicht wahr sein!“
THUD.
THUD.
Anina stand nun nur noch wenige Meter von uns entfernt. Sie stierte wütend auf uns hinab. Wir konnten nicht viel mehr tun, als einfach regungslos dazustehen. Was hätten wir auch sonst tun sollen?
„Was zur Hölle macht ihr hier?“
Wir antworteten ihr nicht.
„WAS MACHT IHR HIER?!“, wiederholte Anina donnernd.
Ich nahm den letzten Funken Mut in meinem Körper zusammen.
„W-Wir m-machen n-nur einen kleinen S-Spaziergang...!“
Die Riesin schien nicht erfreut.
„Lächerlich! Das reicht jetzt! Ihr kommt mit mir. Und dann unterhalten wir uns wie Erwachsene!“
Die mit Goldschmuck behangene Titanin ging in die Knie und streckte ihre gigantische Hand in unsere Richtung aus. Geistesgegenwärtig nahm ich Fionas Flinte in die Hand und lud sie, so schnell ich konnte.
Aninas riesige Hand bewegte sich nun genau auf Fiona zu. Langsam schlossen sich ihre gewaltigen Finger um den winzigen Körper. Fiona begann wie am Spieß zu schreien.
„C-Captain! H-Hilfe! Hilfe--!! Aaaahh--!! Neeein!!“
Gerade als Anina die völlig aufgelöste Fiona greifen und hochheben wollte, zielte ich auf das rechte Auge der Riesin. Da sie in die Knie gegangen war, schien ein direkter Treffer ein wenig wahrscheinlicher. Ich drückte ab.
BANG!
Ich hatte einen Volltreffer gelandet. Anina ließ sofort von Fiona ab und schrie so laut auf, dass uns beinahe die Trommelfelle platzten.
„Aaagh--!! IHR VERDAMMTEN MADEN! Agh...!! WAS HABT IHR GETAN?!“
Die Riesin stand taumelnd auf und presste sich beide Hände gegen ihr Auge. Jetzt musste es schnell gehen. Ich griff Fionas Arm und zerrte sie Richtung Wald. Wir liefen so schnell wir konnten.
Ich warf ihr einen hastigen Blick zu. „Hast du-- hast du die Phiole?“
„J-Ja... ich habe sie!“
„Dann lauf! Lauf um dein Leben!“
Wir trauten uns nicht, uns noch einmal umzudrehen. Die Riesin stampfte über den Strand und schrie erneut voller Schmerzen auf. Wir konnten es vielleicht schaffen!
Nach gefühlt ewigen Sekunden kamen wir wieder am Waldrand an und rannten tiefer hinein. Weiter, weiter... Ich kann nicht mehr sagen, wie lange wir gerannt sind. Immer wieder hörten wir Anina wie wild hinter uns brüllen und laut stampfen.
„WO SEID IHR? ICH MACHE EUCH PLATT! ICH FINDE EUCH--!! IHR WERDET DAFÜR BEZAHLEN!!“
Wir ließen uns nicht davon beeindrucken und rannten weiter. So lange, bis wir nicht mehr konnten und die Riesin außer Hör- und Sichtweite war. Erschöpft brachen wir unter einem Baum zusammen. Es dauerte bestimmt zwanzig Minuten, bis wir uns von dem anfänglichen Schock erholt hatten.
Fiona lächelte endlich und sah zu Boden, völlig außer Puste. „Du hast es geschafft, Captain! Du hast es tatsächlich geschafft! Du hast mir das Leben gerettet!“
Ich wollte ihr gerade stolz auf die Schulter klopfen, doch dann kam mir plötzlich nur noch eins in den Sinn.
„Fiona...! Die Crew! Sie hat das Schiff! Sie weiß, dass wir zusammengehören! Nein!“
Die sonst so ruhige Forscherin wurde auf einmal kreidebleich. Mehr, als sie es sowieso schon war.
„Ah...! Du... du hast recht! Verdammt! W-Was machen wir jetzt?!“
Ich wusste keine Antwort auf ihre Frage.