Insel der Riesinnen (Teil 2)

  • Es war sinnlos, weiter danach zu suchen. Das Schiff war weg. Hatte meine Crew uns einfach hier sitzen lassen? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Irgendetwas musste passiert sein, und ich fürchtete, dass es nichts Gutes war.

    Ich saß mit Fiona am Waldrand, im Schutz der Bäume. Ich sah sie eindringlich an.

    „Und? Irgendwelche Ideen?“

    Sie lächelte gequält. „Nein. Ich schätze, wir sitzen hier erstmal fest.“

    „Sieht so aus...“

    Keiner von uns ließ es sich anmerken, doch von „schlechter Stimmung“ zu sprechen war noch weit untertrieben.

    Wir beschlossen dennoch, zurück zum Dorf zu gehen und der alten Dame noch ein paar Informationen zu entlocken. Irgendetwas mussten wir schließlich tun.

    Die Sonne war inzwischen untergegangen, und die Wanderung durch den Wald war weitaus angenehmer als am Nachmittag. Außerdem boten uns die Bäume Schutz vor den Riesinnen, die uns aber glücklicherweise nicht über den Weg liefen. Sie waren nicht einmal zu hören. Gut.

    Es mag wohl nicht die höflichste Art und Weise gewesen sein, wie wir mitten in der Nacht bei der Frau anklopften, dennoch öffnete sie die Tür, sichtlich erleichtert.

    „Da seid ihr ja! Und? Wie sieht es aus? Habt ihr einen Plan?“

    Fiona und ich blickten uns kurz in die Augen.

    „Nun...“, begann ich, „es gibt da wohl ein Problem.“

    Die alte Frau bat uns hinein, und wir setzten uns gemeinsam an den großen Holztisch in der Mitte ihres Hauses. Sie reichte uns Gläser mit frischem Wasser.

    „Euer... euer Schiff ist weg?“

    Ich traute mich fast nicht, ihr in die Augen zu sehen. Schließlich hatten wir Hilfe versprochen.

    „Ja, es war nirgends zu sehen. Und ich glaube nicht, dass meine Mannschaft mich je im Stich lassen würde. Was meinen Sie? Könnten die Gigantinnen es zerstört haben?“

    Die alte Frau dachte nicht lange nach. „Durchaus. Vermutlich haben sie es entdeckt und...“

    Wir schwiegen alle für ein paar Sekunden.

    „Ich weigere mich zu glauben, dass meine Crew tot ist! Ich muss herausfinden, was passiert ist!“

    Fiona warf mir einen bedrückten Blick zu. „Und wie willst du das anstellen? Wir wissen nichts über die Insel. Und wir haben keine Chance gegen die Riesen.“

    Ich dachte kurz nach und sprach die alte Dame an. „Sie sagten vorhin, dass die jüngeren Riesinnen harmlos seien. Was meinten sie damit?“

    „Sie... sie sind nicht gewalttätig. Wenn die ältere nicht da wäre, würden sie uns vermutlich in Frieden lassen. Warum fragt ihr?“

    „Vielleicht... vielleicht können wir ja mit ihnen sprechen.“

    Fiona entwich ein seltsames Geräusch. „B-Bitte was? Bist du wahnsinnig?“

    „Hast du eine bessere Idee? Ich habe jedenfalls keine Lust, den Rest meines Lebens in Sklaverei zu verbringen! Eher sterbe ich!“

    Fiona wirkte außer sich. „Das kann nicht dein Ernst sein! Wie stellst du dir das vor? Sollen wir sie einfach nett darum bitten, uns zu helfen?“

    Ich grinste. „Genau das. Erinnerst du dich nicht? Sie haben versucht, uns zu retten. Und wir haben es nur wegen ihnen geschafft, oder nicht?“

    Beide Frauen sahen mich an, als wäre ich komplett verrückt geworden.

    - - -

    Ich saß mit Fiona im zweiten Stock des Hauses der alten Dame. Sie hatte uns ein kleines Zimmer zur Verfügung gestellt. Eine einsame Kerze erleuchtete den Raum, und ihr Licht flackerte Schwach in der Dunkelheit der Nacht.

    Ich lag auf dem Bett und starrte angestrengt an die Decke.

    „Die alte Dame hat gesagt, dass die Dorfbewohner nur ihrem Tagesgeschäft nachgehen dürfen. Das heißt, dass sie die Zeit von nachmittags bis morgens in ihren Häusern verbringen müssen.“

    Ich hörte ein Schnaufen aus Fionas Richtung. „Ja, und?“

    „Die Riesinnen kommen zweimal am Tag ins Dorf. Einmal morgens, einmal Nachmittags. Wir müssen sie irgendwie abfangen.“

    „Wie stellst du dir das vor? Es tut mir leid, aber ich denke immer noch, dass du verrückt bist.“

    „Ich weiß. Vielleicht bin ich es auch. Aber ich sehe keine andere Lösung. Wir müssen es zumindest versuchen. Also lass mich dich nochmal fragen. Hast du eine bessere Idee?“

    „Nein... nein. Habe ich nicht. Ich habe nur kein gutes Gefühl bei der Sache. Ich möchte nicht, dass du dich in derlei Gefahr begibst.“

    „Zum dritten Mal. Was zur Hölle sollen wir sonst tun? Uns die nächsten 50 Jahre in diesem Haus verstecken? Eher trinke ich Gift!“

    Plötzlich fiel mir etwas ein. Gift. Gift! Ja!

    „Fiona. Warte mal. Was hast du alles für die Expedition eingepackt? Irgendetwas, das uns weiterhelfen könnte?“

    „Ich wüsste nicht, wie uns ein paar Glasphiolen und Pinzetten helf--“

    Sie unterbrach sich selbst.

    „Nein, vergiss das. Vielleicht gibt es doch etwas.“

    Sie sprang auf und lief zu ihrem Rucksack, der neben der Tür stand. Sie wühlte kurze Zeit darin herum und zog eine Phiole mit einer durchsichtigen Flüssigkeit daraus hervor.

    „Das hier“, sagte sie stolz.

    „Und was zum Teufel soll das sein?“

    „Schlangengift. Ich trage es immer bei mir, wenn wir eine Insel erkunden. Es dient einerseits der Abwehr, andererseits kann man darin andere Flüssigkeiten auflösen und neutralisieren.“

    Meine Augen leuchteten auf. Es war fast so, als hätte sie meine Gedanken gelesen. „Und... und was heißt das jetzt?“

    „Vielleicht könnten wir eine von den Riesinnen damit abmurksen!“

    Ich sah misstrauisch auf den kleinen Glasbehälter. „Und das reicht? Ist nicht gerade viel, oder?“

    Fiona setzte einen gemeinen Blick auf. „Ein Tropfen reicht locker aus, um einen Menschen in wenigen Momenten zu töten. Das hier sollte ausreichen, um eine von ihnen fertig zu machen! Ich bin mir sicher!“

    „Das ist doch schon mal etwas. Allerdings stellt sich mir die Frage, wie wir sie dazu bekommen sollten, es zu trinken.“

    Wieder sah mich Fiona eindringlich an. „Die Menschen hier stellen den Gigantinnen Wasser zur Verfügung, oder? Wenn du tatsächlich mit ihnen reden möchtest, könntest du sie davon überzeugen, die ältere Riesin damit zu vergiften. Da hast du deinen Plan!“

    Ich lachte laut auf. „Das klingt wahnsinnig! Hahah! Probieren wir es!“

    Selbst Fiona musste nun lachen. Es gab einen Hoffnungsschimmer. So dünn und schwach wie er auch war, es war ein Anfang. Nun mussten wir nur noch einen Weg finden, ungestört mit den jüngeren Riesinnen zu sprechen. Und ich hatte bereits eine Idee.

    - - -

    Wir wurden unsanft aus dem Schlaf gerissen.

    THUD.

    THUD.

    THUD.

    Das Geräusch war unverkennbar, Die Riesinnen waren auf dem Weg in das Dorf, und ich blickte verschlafen aus dem Fenster. Die Sonne war gerade aufgegangen. Doch bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, klopfte es an der Tür. Es war die alte Dame. Sie wirkte angespannt.

    „Guten Morgen, ihr beiden.“

    Ich flüsterte ihr ein grummeliges „Morgen“ zu.

    Die alte Dame verlor jedoch keine Zeit und sprach schnell. Jetzt wirkte sie nicht mehr nur angespannt, sie war es auch.

    „Ich... ich muss jetzt zum morgendlichen Appell. Ihr bleibt hier und versteckt euch, habt ihr verstanden? Ihr dürft unter keinen Umständen das Haus verlassen. Egal, was passiert!“

    Ich sah die Frau argwöhnisch an. „Appell? Was?“

    „Keine Zeit für Erklärungen. Wir sehen uns später! Bitte vertraut mir!“

    Ohne auf eine Antwort zu warten schloss sie die Tür und machte sich wieder auf den Weg in das Erdgeschoss. Kurze Zeit später konnte ich hören, wie sie die Haustür öffnete und wieder abschloss.

    Fiona, immer noch verschlafen, gähnte laut. „Appell? Was das wohl heißt?“

    „Keine Ahnung, Warten wir es ab.“

    Ich zog mich an und schnappte mir einen Stuhl. Ich platzierte ihn genau vor einem Fenster und hatte einen direkten Blick auf den Marktplatz, auf dem wir gestern noch um unser Leben fürchteten. Eine eindrucksvolle Anzahl an Menschen hatte sich bereits dort versammelt und schien auf irgendetwas zu warten. Auch die alte Frau war auf dem Weg dorthin. Was passierte nun?

    THUD.

    THUD.

    Die Riesen waren schneller da, als ich erwartete. Sie stellten sich direkt vor die Menschen auf dem Marktplatz und blickten auf sie hinab. Der Anblick war immer noch unglaublich. Ich fühlte mich, als wäre ich in einem Traum. Ich konnte wirklich nicht anders, als diese unbegreiflichen Geschöpfe einfach nur anzustarren. Ihre unfassbare Kraft, ihre schiere Größe... wie aus einem Märchen! Allein ihre Beine waren massiger als die dicksten Baumstämme, die ich in meinem Leben je gesehen hatte. Ich hatte Probleme, ihre Gesichter klar zu erkennen, so weit oben im Himmel waren sie. Es hatte etwas Faszinierendes, etwas Übernatürliches. Als wären sie nicht von dieser Welt. Es sah seltsam aus, wie die Menschenmassen vor ihnen nicht einmal bis zu ihren Knöcheln reichten und wie aufgeschreckte Mäuse herumwuselten.

    Als ich die Gigantinnen so beobachtete, bekam ich erneut Angst. Vielleicht war mein Plan doch nicht so intelligent...? Ich versuchte, den Gedanken zu verdrängen.

    Die ältere Riesin, Anina, begann nun zu den Menschen zu sprechen.

    „Guten Morgen, meine Kleinen! Habt ihr alle gut geschlafen?“

    Niemand antwortete.

    „Ja, ja. Wie auch immer. Durchzählen!“

    Fiona, die inzwischen neben mir stand, schreckte kurz auf. „Jetzt verstehe ich! Sie zählen jeden Morgen die Dorfbewohner!“

    „Wahrscheinlich, damit keiner abhaut“, ergänzte ich.

    Anina wartete geduldig, bis der letzte Mann seine Zahl nannte. 407.

    „Schön. Es sind also alle da. Das freut mich.“

    Sie setzte einen arroganten Blick auf. Nicht, dass er nicht vorher schon überheblich gewesen wäre, aber ich konnte einen Anflug von Wut in ihren Augen entdecken.

    „Kommen wir nun zu etwas weniger Schönem. Wo ist der Schmied? Vortreten!“

    Ein älterer Mann trat aus der Menge hervor, sichtlich zitternd und mit gesenktem Kopf trat er genau vor die Zehen der Riesin Anina. „Hier“, rief er ihr zu.

    Anina sah abschätzig auf ihn hinab. Wie auf ein unartiges Hündchen. „Du hast gestern schlechte Arbeit geleistet. Was sollte das? Nur ein dünner Goldring? Willst du dich über mich lustig machen?“

    Der Mann schien in Panik auszubrechen. „Ich... Es tut mir leid! Das... das Rohmaterial geht uns aus! Ich weiß nicht, wo ich--“

    Anina stemmte erneut die Hände in die Hüften. „Genug! Schweig!“

    Sie hob langsam ihren riesigen Fuß, holte leicht aus und stieß dem alten Schmied mit dem großen Zeh gegen die Brust. Dieser schrie sofort laut auf und fiel rücklings zu Boden. Nun lag er da, und ängstlich starrte er hoch in den Himmel. „Bitte! Verschont mi--“

    Die Riesin ließ ihm keine Zeit, auszusprechen. Sie setzte ihre Ferse vor ihm auf den Boden und senkte ihre gewaltige Fußsohle so über ihn, als würde sie ihn zertreten wollen. Der Schmied schrie, als hätte man ihn mit einer Flinte angeschossen. Seine Panik konnte ich bis in das Haus der alten Dame spüren.

    Anina senkte ihren Fuß weiter und positionierte ihn nun so, dass der Kopf des Schmiedes zwischen ihrem großen und zweiten Zeh hinausschaute. Ihre weiche Fußsohle hielt den Rest seine Körpers unter Kontrolle und drückte ihn sanft in den weichen Boden.

    Die Menschen auf dem Marktplatz schrien aufgebracht. Es war schlimm, dieses Schauspiel aus der Ferne zu beobachten. Wieder breitete sich Wut in mir aus.

    Die Riesin begann erneut zu sprechen.

    „Das ist deine letzte Warnung. Hast du verstanden? Nächstes Mal zerquetsche ich dich einfach wie ein Insekt! Wenn du auch nur noch einmal so eine schlechte Arbeit ablieferst, bist du dran! Kapiert?! Deine Frau und deine Kinder können sich dann auch auf etwas gefasst machen, das kannst du mir glauben!“

    Der Schmied antwortete nicht. Er schnappte nach Luft und schien kurz vor dem Ersticken zu sein.

    Anina wartete noch wenige Sekunden und hob dann endlich ihren Fuß von dem Mann, der sich sofort an den Hals fasste und zusammengekrümmt auf dem Boden liegen blieb.

    Die Riesin lachte. „Keiner hilft ihm! Ihr bleibt, wo ihr seid!“

    Dabei stampfte sie fest auf den Boden, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.

    KRACH!

    Das Haus der alten Dame wackelte brutal. Erneut konnten wir die unglaubliche Kraft der Gigantinnen direkt spüren.

    „So, und jetzt auf die Knie! Alle!“

    Fiona und ich sahen hilflos dabei zu, wie die Menschen auf dem Marktplatz auf die Knie gingen und ihre Gesichter gen Boden senkten. Regungslos verharrten sie mehrere Minuten in dieser unwürdigen Position, während Anina amüsiert kicherte.

    „Gut, gut. Ihr macht das fein, meine Kleinen!“

    Es war grauenhaft, schrecklich...! Wie konnte sie die Leute nur so behandeln? Es war mir ein Rätsel. Ich drohte, in meinen Gedanken zu versinken, doch Fiona stieß mir plötzlich mit dem Ellbogen in die Brust.

    „Schau! Du könntest recht haben! Sieh dir die jüngeren Riesinnen an!“

    Ich schüttelte die Gedanken ab und sah erneut herüber zum Platz. Die beiden anderen Gigantinnen standen einfach nur da, hinter Anina, und sie wirkten fast beschämt. Keine von ihnen sagte auch nur ein Wort. Ganz offensichtlich schien ihnen dieses Verhalten nicht zu gefallen. Als wäre es ihnen unangenehm. Es mag meine Fantasie gewesen sein, aber ich glaubte, in ihren Augen Mitleid zu erkennen.

    Fiona wirkte euphorisiert. „Du hast tatsächlich recht. Es könnte funktionieren...!“

    Bevor ich antworten konnte, war das „Gebet“ vorbei. Anina verabschiedete sich mit einem frechen Grinsen und stampfte davon, die anderen beiden Riesinnen im Schlepptau. Die Menschen blieben noch einige Sekunden regungslos stehen und verteilten sich dann im Dorf, um ihrer Arbeit nachzugehen. Die Erde bebte, als die Gigantinnen am Horizont verschwanden.

    So wütend ich war – ich war nun sicher, dass ich zumindest eine kleine Chance hatte. Fiona und ich sahen uns in die Augen und nickten.

    „Captain, du musst es versuchen! So grauenvoll diese Sache ist – ich bin nun auch überzeugt, dass wir zumindest mit ihnen reden könnten! Aber du musst höllisch aufpassen!“

    - - -

    Seit einigen Stunden wartete ich nun an einem der Bauernhöfe im Norden des Dorfes. Die alte Dame berichtete, dass die jüngeren Riesinnen sich hier täglich einige Rinder mitnahmen, um sie zu verspeisen. Da ich morgens natürlich nicht schnell genug vor Ort sein konnte, hoffte ich nun, dass der nachmittägliche Besuch der Riesinnen mir Glück bringen würde. Fiona wartete im Haus der Dame auf mich und wünschte mir viel Erfolg, nachdem ich sie erfolgreich davon abbringen konnte, mich zu begleiten. Es war einfach zu gefährlich. Falls ich es nicht schaffen würde, wäre sie wenigstens in der Lage, irgendwie weiterzuleben.

    Üblicherweise, so sagte man mir, war Anina für die Wasservorräte zuständig. Deswegen waren die Chancen hoch, die jüngeren Riesinnen hier allein anzutreffen.

    Stunde um Stunde verstrich, und meine Angst stieg mit jedem Augenblick. Was, wenn sie mich einfach zertrampeln würden? Mich ignorieren würden? Verdammt. Ich konnte einfach nicht vorhersagen, was passieren würde.

    Ich unterhielt mich ein wenig mit dem Bauern, der zwar neugierig nach meinem Herkunftsort fragte, mich aber genauso wenig mit aufbauenden Worten unterstützte. Er hielt mich für verrückt. Verständlich.

    Als die charakteristischen Beben schließlich zu hören waren, verkroch er sich in seinem Haus. Ich hätte gerne gesagt, dass ich mich nun mutig zu den Rindern auf die Weide stellte und wartete, aber das wäre gelogen gewesen.

  • THUD.

    THUD.

    Meine Knie verwandelten sich in Pudding. Was, wenn es schiefgehen würde? Nein... derlei Gedanken waren nun fehl am Platze.

    THUD.

    THUD.

    Ich konnte sie nun sehen. Anmutig kamen die Riesinnen genau auf mich zu. Sie waren nur noch wenige Sekunden entfernt und steuerten genau auf die Weide zu, auf der ich stand.

    THUD.

    Die blonde Gigantin blieb genau vor mir stehen. Ihre braunhaarige Freundin folgte kurz hinter ihr und sah ebenfalls auf mich hinab. Ich machte mir nun beinahe in die Hose. Oh Gott! Das war ein schlechter Plan!

    Ich atmete tief ein, während ich den Blick der Riesinnen auf mir spürte. Du kannst das! Du kannst das! Komm schon!

    Ich hob einen Arm und winkte ihnen zu.

    „S-S-Seid g-gegrüßt, G-Gigantinnen...!“

    Die blonde Riesin wirkte verwundert und kniete sich nun vorsichtig hin, um mich genauer betrachten zu können. Scheinbar schien sie keine bösen Absichten zu haben, sonst wäre ich vermutlich schon tot gewesen. Ihre gigantischen Zehen sanken genau vor mir tief in die Erde, als sie ihr gesamtes Gewicht auf sie verlagerte. Es war absurd. Wie viel sie wohl wog?

    Trotz meiner nun sehr akuten Todesangst war der Anblick nicht weniger als atemberaubend. Meine Panik wich fast schon einer Art Ehrfurcht. Ich konnte kaum an mich halten, als sie ihren Mund öffnete. Sie war... wunderschön!

    „Du...! Du warst doch gestern auf dem Marktplatz! Wer bist du? Wo ist deine Frau?“

    Ich zitterte. Es war kein schönes Gefühl, von so einem mächtigen Wesen direkt angesprochen zu werden. Verdammt noch eins!

    „Oh, äh... ja...! I-Ihr habt recht! D-Das war ich!“

    Die Riesin musste plötzlich lächeln. Ich verstand nicht ganz, was sie beabsichtigte.

    „Du musst keine Angst haben. Wir tun dir nichts. Versprochen!“

    Ich atmete ein wenig auf. Meine Anspannung war immer noch deutlich zu spüren, aber ich fühlte mich etwas lockerer. Ich fand es fast schon beeindruckend, dass sie meine Körpersprache so gut lesen konnte, obwohl ich im Vergleich zu ihr so winzig war.

    „Ich... möchte mich mit euch unterhalten. Es ist wichtig!“

    Die blonde Riesin drehte sich zu ihrer braunhaarigen Freundin um, die immer noch hinter ihr stand und einfach nur zuzuhören schien. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder mir zu.

    „Unter... unterhalten...? Es tut mir leid, aber Anina erlaubt uns nicht, mit euch zu sprechen. Eigentlich dürfte ich auch jetzt nicht mit dir reden! Wenn sie uns sieht, macht sie uns fertig. Und dich auch! Also gehst du jetzt am besten in dein Haus zurück. Wir holen nur ein paar Rinder und sind wieder weg.“

    So ein Mist! Nein! Das war nicht gut! Ich rang nach Worten.

    „O-oh, ähm...“ stotterte ich. „B-Bitte! Ich möchte euch helfen. Nein - UNS helfen...!“

    Die beiden Gigantinnen lächelten. „Helfen? Wie willst du uns bitte helfen? Du kannst uns nicht helfen, Kleiner.“

    „I-Ich habe einen Plan! Aber dafür müssen wir reden! Ihr müsst mir glauben!“

    Ich ging nun ein Risiko ein. Ich legte meine Karten auf den Tisch - ich musste es einfach probieren!

    Zitternd sprach ich weiter. „Ich weiß, dass Anina euch unterdrückt! Ihr wollt das hier alles gar nicht, oder? Ihr seid keine Monster wie sie!“

    Die blonde Riesin wurde plötzlich still und sah erneut zu ihrer Freundin, die jetzt verwundert und nachdenklich in die Ferne blickte.

    „Ich kann euch wirklich helfen! Aber dafür müssen wir zusammenarbeiten! B-Bitte...! Lasst uns reden!“

    Die blonde Riesin setzte eine ernste Miene auf. Sie schien nachzudenken und sah mich dann mit traurigen Augen an.

    „Ich... ich kann mir zwar nicht vorstellen, wie jemand wie du uns helfen könnte. Aber... ich möchte dir glauben. Du... du hast recht. Wir können das hier nicht mehr länger mit ansehen! Es tut uns weh, die Menschen so leiden zu sehen!“

    Mein Herz setzte kurz aus. Ich hatte es geschafft! Hah! Gerade, als ich zur Erklärung ansetzen wollte, unterbrach mich die blonde Riesin jedoch.

    „Wir können es nicht hier tun. Wenn Anina uns sieht, haben wir keine Chance! Wir treffen uns heute Nacht am Strand. Ist das für dich in Ordnung? Ich werde alleine kommen, dann sollten wir sicher sein. Ich möchte euch so gern glauben...“

    Plötzlich fiel mir etwas ein, als sie den Strand erwähnte. Das Schiff und meine Crew...! Obwohl ich um alles in der Welt wissen wollte, was mit ihnen geschehen war, schluckte ich diese Frage herunter. Es war der falsche Zeitpunkt dafür.

    „In Ordnung“, antwortete ich ihr. „Ich werde da sein.“

    Die blonde Gigantin lächelte mild und stand dann wieder zu ihrer vollen Größe auf. Ich konnte trotz meiner Angst nicht genug von diesem Schauspiel bekommen. Es war einfach faszinierend. Einnehmend. Eindrucksvoll.

    Ich sah den Riesinnen dabei zu, wie sie etwa ein Dutzend Rinder mit ihren Fingerspitzen einsammelten und sie in ihren riesenhaften Händen hielten, fest eingeklemmt zwischen ihren Fingern. Ich konnte mir nur ausmalen, was die Tiere denken mussten. Realisierten sie überhaupt, was gerade mit ihnen passierte?

    Ich blickte den Gigantinnen noch eine Weile hinterher, als sie in der Ferne verschwanden. Als sie schließlich nicht mehr zu sehen waren, brach ich atemlos in mich zusammen. Uff. Eine unglaublich große Last fiel von meinen Schultern. Ich hatte es tatsächlich geschafft. Unfassbar. Immer noch zitternd, aber freudig gestimmt machte ich mich auf den Weg zurück ins Haus der alten Dame, um allen von meinem Treffen zu berichten. Was Fiona wohl denken würde?

    - - -

    „Ich kann echt nicht glauben, dass du dich einfach vor sie gestellt hast! Du bist doch krank!“

    Ich lachte laut auf. Fiona konnte es immer noch nicht begreifen. Immer und immer wieder fragte sie, wie ich dieses Treffen organisiert hatte. Wir waren inzwischen zusammen auf dem Weg zum Stand, die Sonne war bereits untergegangen und der Mond schien schwach durch die Baumkronen des Waldes.

    „Ich hab' ihnen einfach gesagt, was Sache ist!“

    Fiona schnaufte. „Ja, klar. Erzähl doch keinen Mist!“

    Ich resignierte schließlich. „Ja, ja. Du hast ja recht. Mir haben die Knie gezittert. Aber sie waren wirklich freundlich. Unsere Vorahnungen haben sich also bewahrheitet!“

    Wir setzten unseren Weg fort und erreichten erneut den Waldrand. Wir versteckten uns zwischen ein paar Büschen und machten uns darauf gefasst, eine lange Zeit zu warten. Es wurde immer später, und ich merkte, wie Fiona unruhiger wurde.

    „Mach dir keine Sorgen. Uns wird nichts passieren.“

    Sie lachte. „Das sagst du so leicht.“

    Weitere zwei Stunden vergingen, ehe wir die typischen Beben wahrnahmen.

    THUD.

    „Das muss sie sein“, flüsterte ich.

    THUD.

    THUD.

    Es dauert nicht lange, bis die blonde Riesin auftauchte und sich vorsichtig auf dem Sand niederließ. Nicht weit von uns entfernt. Fiona stand der Mund offen. Sie konnte immer noch nicht fassen, wie groß diese Frau war.

    Ich packte ihren zitternden Arm und zog sie nach oben. „Komm, gehen wir zu ihr.“

    Langsam stolperten wir auf die Riesin zu. Sie hatte uns bereits entdeckt und nickte uns freundlich zu. Als wir genau vor ihren Füßen stehen blieben, hob sie ihre Hand zum Gruße.

    Sie lächelte freundlich. „Guten Abend. Ich hoffe, ihr seid wohlauf.“

    Wir nickten ihr zu, ehe der Blick der Gigantin auf Fiona fiel.

    „Du...! Du warst doch auch auf dem Markplatz, nicht wahr?“

    Fiona fiel fast in Ohnmacht. „J-J-Ja, w-war ich...!“

    Die Riesin lächelte sanft. „Hab keine Angst. Bitte. Ich tue dir nichts. Wir sind hier um zu reden, oder?“

    Das war mein Zeichen. Ich ging in die Initiative.

    „Ja, richtig. Vielleicht wäre es angebracht, dass wir uns erstmal vorstellen. Ich bin Rykard, Schiffskapitän. Neben mir steht Fiona, meine Expertin für Botanik. Wir grüßen euch.“

    Die Riesin lächelte erneut. „Seid gegrüßt. Ich bin Ava.“ Sie machte eine kurze Pause. „Du erwähntest, dass du Kapitän bist. Heißt das, dass ihr beide...“

    „Genau. Wir sind gestern auf dieser Insel gestrandet. Wisst ihr vielleicht, was mit unserem Schiff passiert ist? Es ist verschwunden. Es lag hier draußen samt Crew vor Anker. Auch unser Landungsboot hat sich scheinbar in Luft aufgelöst.“

    Die Gigantin sah zu Boden. Scheinbar war ihr das Thema unangenehm. „Ich... ich denke schon. Anina hat uns befohlen, das Schiff und die Crew zu entführen...“

    Ich bekam einen Schreck. „Ent... Entführen?!“

    „Macht euch keine Sorgen. Eure Crew ist wohlauf...! Wir haben sie auf die andere Seite der Insel gebracht. Anina wollte sie... befragen.“

    Fiona war plötzlich hellwach, ihre Angst schien wie weggeblasen. „B-Befragen? Was meint ihr damit?“

    Ava senkte erneut ihren Blick. „Das ist eine lange Geschichte...“

    Fiona breitete fordernd ihre Arme aus. „Dann erzählt sie uns! Was geht hier überhaupt vor? Wie seid ihr so gigantisch geworden?“

    Ava sah uns nun traurig an. Sie tat mir fast leid.

    „Bis vor Kurzem waren wir noch so groß wie ihr...! Ja. Wir waren ganz normale Menschen. Aber alles änderte sich, als wir hier ankamen.“

    Fiona und ich lauschten gespannt. Keiner von uns wagte es, sie zu unterbrechen.

    „Auf unserer Heimatinsel gab es einen grausamen Krieg. Es ist eine recht kleine Insel, dennoch haben sich dort zwei völlig unterschiedliche Kulturen entwickelt. Mit der Zeit haben sich diese Kulturen in verfeindete Nationen entwickelt, und...“

    Sie schluckte merklich.

    „...vor wenigen Wochen haben sie uns angegriffen. Alles stand in Flammen. Freunde, Familie... ich glaube, sie haben es nicht geschafft...“

    Ich sah, wie Avas Augen feucht wurden und versuchte schnell, sie zu beruhigen. „Das... das tut mir Leid. Ihr habt mein Mitgefühl.“

    Die Riesin wischte sich die Tränen aus den Augen und versuchte, zu lächeln.

    „Schon... schon in Ordnung.“ Sie machte eine erneute Pause und seufzte. „Als... als es fast schon zu spät war, wurde ich zusammen mit Anina und Melina auf ein Boot verfrachtet. Ein seltsamer Mann war mit uns an Bord. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen, aber er versprach uns, uns von der Insel und in Sicherheit zu bringen. Wir glaubten ihm. Zwei Tage später landeten wir hier an einer Küste... auf der anderen Seite der Insel. Alles schien in Ordnung, er hatte uns gerettet. Seine Navigation war tadellos.“

    Ich musste sie kurz unterbechen. „Ist Melina eure braunhaarige Freundin?“

    Ava nickte sanft und fuhr fort.

    „Wenige Stunden nach unserer Ankunft verhielt sich der Mann merkwürdig. Er redete nur noch wirres Zeug über Vergeltung. Rache. Er hatte scheinbar eine Art Plan. Er sagte, dass er uns dafür brauchen würde. Zu der Zeit verstanden wir noch nicht, was er meinte.“

    Die Geschichte nahm plötzlich eine dunkle Wendung. Was mag wohl passiert sein?

    „Dann geschah es. Er reichte uns schließlich seine Feldflasche und sagte, dass uns das Wasser guttun würde. Wir nahmen alle ein paar Schlücke und... wachten gefesselt wieder auf. Er hatte uns an einen Baum gebunden und starrte uns mit einem wahnsinnigen Blick an.“

    Fiona erschrak. „Das... das ist ja grauenhaft! Was geschah dann?“

    „In seiner Hand hielt er ein dünnes Fläschchen mit einem Zerstäuber. Er lachte und sagte uns, dass wir die letzte Hoffnung für alle seien. Wir verstanden ihn nicht. Dann richtete er die Flasche auf uns und benetzte uns mit einer bläulich leuchtenden Flüssigkeit...“

    Ich konnte mir nun denken, wohin das Ganze führte, ließ Ava aber ausreden.

    „Als wir wieder zu uns kamen, waren wir Riesen. Wir konnten es nicht fassen. Der Mann stand zu unseren Füßen und lachte wie ein Verrückter. Er schrie uns an. Wir sollten zurück zu unserer Heimatinsel und alle Feinde plattmachen! Ich... ich beachtete ihn und sein Gerede aber nicht. Ich sank zu Boden und fing an zu weinen... schließlich hatte er uns in Monster verwandelt!“

    Mal wieder konnte ich nicht glauben, was passiert war. Das klang wie eine Geschichte aus einem Märchenbuch! Auch Fiona wirkte sichtlich geschockt. Sie hatte ihre Hand über den Mund gepresst und lauschte gebannt.

    „Anina war... wütend. So wütend, dass sie ihn auf der Stelle...“

    Ava sah erneut zu Boden und schwieg.

    Trotz aller Sentimentalität konnte ich nun nicht mehr anders. Ich musste es einfach ansprechen.

    „Und seitdem seid ihr hier und... terrorisiert die Dorfbewohner?“

    Ava sah mich schockiert an.

    „N-Nein...! So ist es nicht!“

    Fiona wurde nun auch etwas mutiger. „Wie würdet ihr das heute morgen denn sonst bezeichnen?“

    „Das ist Aninas Schuld! Ihr müsst mir glauben! Melina und ich würden nie... Sie zwingt uns dazu! Wir können nichts tun! Sie ist viel stärker als wir! Wir sind auf sie angewiesen!“

    Ich wusste zunächst nicht, wie ich reagieren sollte, nickte aber schließlich verständnisvoll. Ich glaubte ihr tatsächlich.

    „Keine Sorge, ich glaube euch“, antwortete ich ihr. „Aber wieso seid ihr nicht zu eurer Heimatinsel zurückgekehrt?“

    Ava wirkte frustriert. „Ich... ich würde gehen und helfen, aber... wir würden den Weg niemals ohne einen Navigator finden! Anina hat uns verboten, zu gehen! Sie genießt ihre Macht und sagte, dass es das Beste sei, was ihr je passiert ist...!“

    Das war mein Stichwort. „Ich verstehe. Aber genau da kommen wir ins Spiel. Wir haben einen Vorschlag für euch.“

    Die Riesin schaute gebannt auf meinen für sie winzigen Körper hinab. „Ja...?“

    „Fiona hat eine Phiole mit Schlangengift! Wir glauben, dass wir Anina damit vergiften könnten. Ihr wärt frei, und die Dorfbewohner könnten zu einem normalen Leben zurückkehren! Was sagt ihr?“

    Ava schien geschockt.

    „Das... das geht leider nicht.“

    „Wieso?“, fragte ich sie herausfordernd.

    „Sie ist meine große Schwester. Ich werde meine eigene Schwester nicht vergiften – und IHR werdet das auch nicht tun. Haben wir uns verstanden?“

    V-Verdammt! Das konnte doch nicht wahr sein!

    „Und was schlagt ihr vor, Ava? Was sollen wir tun?“

    Die Gigantin sah wieder zu Boden. „Ich... ich weiß es nicht...“

    - - -

    Und wieder hockte ich mit Fiona im dunklen Zimmer der alten Dame.

    Fiona starrte mit leerem Blick aus dem Fenster. „Das ist ja super gelaufen, Captain.“

    „Wer konnte das denn auch ahnen? So ein großartiger Mist! Wir sind am Ende!“

    „Immerhin ist unserer Crew nichts passiert. Sie sind am Leben. Das ist doch immerhin etwas Positives.“

    „Ja. Das ist es. Ich würde gern mit ihnen sprechen...“

    „Ava erwähnte, dass Anina sie befragen möchte. Wahrscheinlich denkt sie, sie wären vom Feind gesandt...“

    „Halte ich auch für möglich“, antwortete ich. „Aber wir können nicht einfach zu den Riesen spazieren und sie danach fragen.“

    Fiona dachte kurz angestrengt nach. „Captain. Eine Idee hätte ich vielleicht doch noch. Es ist eigentlich unlogisch, aber vielleicht doch möglich.“

    Ich blickte ungläubig zu ihr herüber. „Ach ja? Lass hören.“

    „Was wäre, wenn wir Avas Rettungsboot finden und es untersuchen? Was ist, wenn der wahnsinnige Mann noch mehr von dieser Flüssigkeit dabei hatte?“

    War sie nun völlig durchgedreht? „Und was sollte das bitte bringen?“

    „Nun. Es gäbe eine Möglichkeit, wie wir Anina in Schach halten könnten, wenn wir ihr schon keinen Schaden zufügen dürfen...“

    „Warte. Warte. Verstehe ich das gerade richtig? Du willst Ava und Melina noch größer machen, damit sie sich Anina schnappen und verschwinden?“

    Fiona lächelte beinahe diabolisch. „Korrekt, Captain.“

  • Wenn die Ältere nicht da wäre,[...]

    Ich hab' einen Fehler bemerkt. ^^

    Ähnlich wie Giantesslover nehme ich an dass Fiona die bläuchlich leuchtende Flüssigkeit für sich selbst will. Auch ihr "beinahe diabolisches Lächeln" spricht dafür.

    Herausfinden werde ich es wohl erst morgen,(vielleicht auch spät heute) aber darauf freue ich mich.

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